Es gibt aber noch eine zweite Erklärung, denn die Sozialdebatte zeichnet sich durch ein Muster aus, das auch in anderen deutschen Debatten der vergangenen Wochen zu beobachten war: Jede Meinungsverschiedenheit – und sei sie noch so klein – wird zur Koalitionskrise erklärt, in der ein Partner den anderen zu unterwerfen trachtet.
Das geht noch nicht weit genug für eine zweite Erklärung, denn es fehlt das Warum. Das erklärt sich dadurch, dass es hier um eine koordinierte Verschiebung des Overton-Windows nach rechts in rasanter Geschwindigkeit geht, nicht darum irgendein Problem zu lösen. Und das geht einfach besser mit "Meinungsverschiedenheiten", als ohne. Wichtig ist dabei nur, dass die Gegenseite zu Rechts nicht Links ist, sondern bisschen moderater Rechts. Wenn die CDU irgendwas abenteuerliches sagt, z.B. "Eine Erhöhung können wir unseren Arbeitnehmern nicht zumuten", dann muss der Wurmfortsatz SPD kontern "Eine leichte Erhöhung zur Sicherstellung der Finanzierung".
Der "Kompromiss" wird dann irgendwo zwischen "Beitragserhöhungen ohne Anpassung der Beitragsgrenze zur Sicherstellung der Finanzierung" und "Sollen die Versicherungen halt Leistungen reduzieren und die Versicherten eine private Zusatzversicherung abschließen" ausfallen. Und selbst wenn dann am Ende nichts passiert, setzt sich beim Deutschen Michel im Kopf fest, "Sozialversicherungen sind teuer, das können wir uns nicht leisten, ohne dass die Mittelschicht™ (zu der er sich gefühlt selbst zählt) das für die fiesen Ausländer und faulen Bürgergeldempfänger zahlen muss."