this post was submitted on 02 Dec 2025
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Frag Feddit
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1. Das Rauschen
Es begann, wie so vieles an einem völlig unspektakulären Donnerstag. Ein Donnerstag, der eigentlich nur ein Mittwoch war, der sich zu wichtig nahm. Ich stand vor dem Kühlschrank und starrte auf ein einsames Glas Gewürzgurken. Es starrte zurück, wie ein Gegner in einem Duell, der genau weiß, dass du keine Munition mehr hast.
Ich war seit mehreren Tagen damit beschäftigt gewesen, mein E-Mail-Postfach umzusortieren. Ein Unterfangen, dass sich in der Rückschau eher wie eine Flucht anfühlt. Vor mir selbst? Vor der Steuererklärung? Vor der Aufgabe endlich die quietschende Badezimmertür zu ölen? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich mich seltsam ruhelos fühlte, als würde ein Magnet irgendwo in der Ferne an mir ziehen. Und dann war da dieses Rauschen. Nicht in meinen Ohren, sondern irgendwie in meinem Kopf. Wie ein schlecht eingestellter Radiosender, der gleichzeitig Nachrichten, klassische Musik und Verkehrsfunk sendet. Ich hatte keine Ahnung woher es kam, und es störte mich nicht genug um nachzusehen.
Ich hatte also gerade eine Gurke aus dem Glas gefischt, als mein Handy vibrierte. Keine Nachricht, kein Anruf. Einfach ein Impuls, der mich aus einer Mischung aus Langeweile und seltsamer Vorahnung dazu brachte, einen Spaziergang zu machen. Ich hätte damals nie geahnt, dass dieser Spaziergang der Anfang einer absurden Reise sein würde. Aber so fängt es ja meistens an.
2. Die Rolltreppe
Ich ging also nach draußen, ohne zu wissen wohin. Die Luft roch nach Regen und Erde. Ein Duft, den ich seit meiner Kindheit liebte. Er erinnerte mich an heiße Sommerabende, an denen Gewitter über die Stadt zogen und für die lang ersehnte Abkühlung sorgten, während ich auf der Terrasse saß – vor mir ein Stück vom Nachmittag übrig gebliebener Erdbeerkuchen – und das Prasseln der dicken Regentropfen auf dem Vordach genoss.
Meine Füße trugen mich zunächst durch Straßen, die ich kannte, bis sie mich an einen Ort führten, den ich nicht kannte. Das wäre an sich nicht ungewöhnlich, schließlich ist es leicht, sich in der eigenen Stadt zu verlaufen, wenn man sich nicht aufpasst. Aber der Ort an dem ich jetzt ankam fühlte sich nicht an als wäre er einfach "irgendwo". Zwischen zwei Wohnblocks – Gebäude die alt genug waren um gräulich vor sich hin zu bröckeln, aber jung genug um noch nicht als Charmant zu gelten – befand sich eine kaputte Rolltreppe. Sie führte in eine Art Untergeschoss, das aussah als wäre hier früher mal der Eingang in eine U-Bahn-Haltestelle gewesen, die man vor langer Zeit vergessen hatte. Ein graues Schild hing über dem Eingang: "Beta-Zugang – Fediverse".
Ich hatte keine Ahnung was das bedeuten sollte. Doch ohne eine einzige Sekunde nachzudenken, ging ich die Treppe hinunter. Ein Verhalten, das rückblickend beinahe surreal anmutet. Vielleicht war es das Rauschen in meinem Kopf, das mich drängte hinunter zu gehen, vielleicht war es nur die Neugier, die mich in Bewegung setzte.
Ich wünschte es wäre bei der Treppe geblieben.
3. Die Halle der Monitore
Unten erwartete mich eine große, rechteckige Halle. Es gab keine Fenster, nur ein flackerndes Neonlicht an der Decke erhellte den Raum – und die Monitore. An den Wänden reihten sich hunderte Monitore aneinander. Manche altertümlich mit dicken Rahmen aus vergilbtem Kunststoff, andere ultraflach und rahmenlos, wie frisch aus der Zukunft geliefert. Auf ihnen liefen Bilder, die ich nicht einordnen konnte: flimmernde Landschaften, unscharfe Gesichter, verzerrte Worte die nur halb sichtbar waren, wie auf diesen Captcha-Abfragen, die sich erst beim dritten oder vierten Versuch lösen lassen.
In der Mitte des Raumes stand ein Tresen. Dahinter ein Mann. Oder zumindest jemand, der wie ein Mann aussah, wenn auch wie einer, den jemand aus Knetmasse modelliert hatte. Sein Gesicht sah nicht nur so aus, wie eines dass man sofort wieder vergessen würde sobald man sich umgedreht hatte. Es kam mir tatsächlich jedes mal vor als sähe ich es zum ersten mal, wenn ich den Blick kurz abgewandt hatte um auf einen der zahlreichen Monitore zu schauen.
"Du bist spät.", sagte er.
"Ähm, wofür?" fragte ich, was mir mi Nachhinein vernünftig erscheint, aber damals fühlte es sich an wie die dümmste Frage der Welt.
"Für die Registrierung", grinste der Mann: "Für das Fediverse".
Bevor ich nachfragen konnte, reichte er mir ein Formular. Ein Papierformular auf einem Klemmbrett, mit Kugelschreiber. Wie aus einer anderen Zeit. Ich nahm es entgegen, wenn auch nur deshalb, weil ich nicht unhöflich sein wollte.
4. Das Formular
Normalerweise würde ich niemals etwas unterschreiben, das ich nicht verstehe. Aber dieses Formular war so absurd vage, dass es eher wie eine Parodie wirkte. Oben stand in Comic Sans die Überschrift "Das Formular" Ohne Abstand, mittig darunter drei Zeilen:
Name (optional)
Absichten (n.b.)
Datenfreigabe (irrelevant)
Es gab keine Kästchen zum Ankreuzen, keine Zeilen zum Ausfüllen, nur einen großen leeren Raum, der förmlich verlangte, beschrieben zu werden. Ich schrieb drei Wörter: "Bin nur neugierig".
Der Mann nahm das Blatt an sich, als hätte ich damit ein uraltes Ritual vollendet, stempelte es zwei mal und heftete es dann in einen dicken Ordner, von dem der Staub herunter fiel als er ihn öffnete. Der nickte zufrieden und sagte: "Das Fediverse hat Dich also ausgewählt."
"Aha", sagte ich. Das Rauschen in meinem Kopf wurde lauter.
5. Onkel Hildbert
Es gibt in meinem Leben nur wenige Momente, in denen ich mich an Onkel Hildbert erinnere. Aber als ich dort in dieser seltsamen Halle stand, kam er mir plötzlich in den Sinn.
Hildbert war ein Mann von beeindruckender Unlogik. Er behauptete jahrelang, sein Papagei könne die Lottozahlen vorhersagen, verweigerte aber konsequent den Kauf von Tippscheinen, weil das "dem Vogel zu viel Druck machen" würde.
Einmal erzählte er mir: "Wenn Du irgendwo hinkommst und nicht weißt, wo Du gelandet bist, dann war es das Fediverse". Damals hielt ich das für eine seiner typischen Fantasien, entstanden aus einer Mischung aus Kräuterschnaps und zu viel Werbefernsehen.
Doch jetzt fühlte es sich an, als hätte er mir damals etwas wichtiges sagen wollen. Ich verwarf den Gedanken. Oder versuchte es zumindest.
6. Die Rolltreppe ins Nichts
Der Mann hinter dem Tresen drückte mir ein kleines Kärtchen in die Hand. "Du wirst kontaktiert", sagte er. "Sprich mit niemandem darüber."
Ich hätte lachen sollen oder davonlaufen. Stattdessen steckte ich das Kärtchen in meine Tasche und sagte: "Okay".
Der Mann nickte wieder zufrieden und wandte sich ab. Ich verließ die Halle, stieg die kaputte Rolltreppe hinauf und fand mich wieder in der normalen Welt. Als ich mich umdrehte, keine Spur von der seltsamen Halle. Keine Rolltreppe. Nichts. Nur zwei graue Wohnblocks, zwischen denen eine Wand stand. Eine feste Wand. Kein Durchgang, keine Tür.
Das Kärtchen in meiner Tasche blieb real.
7. Die nächsten Tage
Was danach geschah, lässt sich schwer beschreiben, weil ich selbst damals nicht sicher war, was ich wirklich erlebte und was Traum war.
Ich hörte das Rauschen jetzt öfter. Nicht ständig, aber immer dann, wenn ich gerade dabei war, mich in triviale Tätigkeiten zu verlieren. Beim Spülen, beim Duschen und beim Scrollen durch die Nachrichten auf dem Handy. Manchmal sah ich aus dem Augenwinkel Bewegungen, doch wenn ich genauer hinsah konnte ich nur noch einen Schatten davon huschen sehen, dessen Besitzer schon lange verschwunden schien.
Ich begann, in dem Rauschen immer wieder die selben Wörter zu hören: "Komm.", "Finde.", "Fediverse." Ich hatte Albträume, in denen ich durch digitale Labyrinthe irrte, wahllos Profile anklickte, die keinen Menschen gehörten sondern Beobachtern, Accounts die nichts posteten, aber irgendwie trotzdem kommunizierten.
Ich erzählte niemandem davon, aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich das nicht sollte.
8. Die Taxifahrt
Drei Tage später beschloss ich, frische Luft zu schnappen. Vor meiner Tür stand ein Taxi, obwohl ich keines gerufen hatte. Der Fahrer, ein Mann mit einem Imposanten Bart und Augen, denen man ansah, dass sie Dinge gesehen hatten die man besser vergisst, fragte: "Steigen Sie ein?"
Ich wollte "Nein" sagen, doch meine Hand öffnete die Tür und ich stieg ein.
Wir fuhren. Keine Ahnung wohin. Der Fahrer sprach kein weiteres Wort. Ich starrte ihn im Rückspiegel an und ich könnte schwören, dass er manchmal zwei Pupillen pro Auge hatte. Doch jedes mal wenn ich blinzelte, waren es wieder normale Augen.
Nach einer guten halben Stunde hielt er an einer Kreuzung. "Hier", sagte er. "Wo bin ich?", fragte ich und er erwiderte knapp: "An der Schwelle." Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, doch ich stieg aus, weil ich nicht wusste was ich sonst tun sollte.
Als ich mich umdrehte, war das Taxi verschwunden.
9. Das Angebot
Ich stand mitten in einer nächtliche Straße, in der nur ein einziges Licht brannte. In einem Schaufenster auf dem Stand "Die Erfahrung beginnt hier."
Ich betrat den Laden. Drinnen roch es nach Vanille, Staub und Ozon...?
Eine Frau mit schulterlange, rotbraunen Haaren begrüßte mich.
"Du bist bereit", sagte sie.
"Wofür?"
"Für den Eintritt ins Fediverse."
"Ich dachte, ich wäre schon drin?"
"Oh nein", antwortete sie lächelnd. "Du hast nur den Vorraum betreten."
Dann reichte sie mir ein Glas mit einer hellen Flüssigkeit: "Trink. Nur so kannst Du das Netzwerk verstehen."
Ich hätte ablehnen sollen, aber das Rauschen in meinem Kopf wurde zum Dröhnen.
Ich trank. Die Welt explodierte.
10. Der Rausch und die langen, langen Tage
Ich kann die nächsten Stunden, Tage, vielleicht sogar Wochen nicht mehr chronologisch wiedergeben. Es war ein flackerndes Kaleidoskop aus Farben, Geräuschen und Erlebnissen, die sich nicht wie Erinnerungen anfühlten, sondern wie Downloads, die jemand direkt in mein Bewusstsein spielte.
Ich rannte durch endlose Korridore aus Bits und Pixeln. Ich sprach mit körperlosen Avataren. Ich schwebte durch ein digitales Meer, in dem Kommentarthreads wie Fische wimmelten. Ich sah mich selbst von außen, gleichzeitig vergrößert und verkleinert, wie ein Profilbild, das ständig neu gerendert wird.
Manchmal hörte ich Stimmen, die miteinander zu diskutieren schienen, als würde ein Gremium entscheiden, welche Version von mir sie für "brauchbar" hielten.
Ich verlor jedes Zeitgefühl. Der Rausch war nicht angenehm. Er war nicht unangenehm.
Er war.
11. Der letzte Traum
Bevor ich wieder zu mir kam, sah ich eine letzte Vision:
Ein leuchtender Kreis. Im Zentrum ein Gerät, ein Smartphone.
Darauf das Logo eines sozialen Netzwerks, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Darunter ein pulsierendes Wort: "Willkommen."
Dann absolute Dunkelheit.
13. Das Erwachen
Ich wachte auf kaltem Asphalt auf. Nacht. Regen. In der Ferne heulten Martinshörner.
Ich lag in einer Sackgasse, eingehüllt in eine Decke, die nicht mir gehörte. Auch die Kleidung die ich trug war nicht meine. Meine Glieder fühlten sich schwer an, als wäre ich tagelang auf den Beinen gewesen.
Ich versuchte mich aufzusetzen, und ein brennender Schmerz durchfuhr meinen Körper.
Ich griff an meine Seite. Da war eine Naht. Nicht frisch blutend, aber auch nicht alt. Ein Schock durchfuhr mich, mein Atem stockte, ich tastete weiter. Die Naht zog sich über die Stelle, wo...
... wo meine Niere sein sollte.
Ich konnte nicht schreien, nur Zittern. In meiner Jackentasche vibrierte etwas. Ich griff hinein.
Ein Handy. Nicht meines. Neu. Schwarz. Ohne Anbieterlogo. Ohne Herstellernamen.
Der Bildschirm leuchtete auf. Eine einzige App war installiert.
"Das Fediverse"
Ich starrte darauf. Das Rauschen in meinem Kopf war verschwunden.
Stille.
Absolute Stille.
Ich wusste, dass diese Stille viel schlimmer war.
13. Der letzte Satz
Als ich mit zitternden Fingern auf das App-Symbol drückte, erschien ein einziger Satz auf dem Display:
"Du bist jetzt Teil des Netzwerks, willkommen zurück."